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Die Nacht und der Tag

von Wilma Huber >>

Die Nacht ist eine alte Dame. Sie hat immer Zeit für mich und ist für mich da. Der Tag hingegen ist ein gestresster Businessmanager. Er denkt nicht über Gefühle nach, er handelt. In Krisensituationen handelt er sehr schnell. Die Nacht lässt sich Zeit, wartet, bis sie ganz sicher ist. Sie weiss, wer sie ist. Sie fühlt zwar kein Glück, keine Trauer, sie ist leer, aber sie weiss, wie sie sich fühlt und sie weiss, dass sie lebt. Auch wenn es nicht ein schönes Leben ist, lebt sie. Der Tag weiss nicht, dass er lebt. Der Tag versucht so viel Zeit wie möglich mit Arbeit vollzustopfen, dass keine Zeit für Gedanken ist. Keine Zeit für Gefühle. Er hat keine Gefühle, weil er nicht die Zeit findet, sie zuzulassen. Er kennt sie nicht und fürchtet sich nur vor ihnen. Aber die Nacht, die alte Dame, kennt es, lässt alles zu und weiss, dass Traurigkeit oder Frust völlig normal sind. Die Nacht versteht es, zu sein. Sie lebt die Sekunde. Wofür sie lebt, weiss sie nicht, aber das ist egal. Sie ist hellwach und hofft darauf, einmal hellwach zu sein, wenn die Sonne scheint. Aber das geht nicht. Sie kann nicht immer wach sein. Der Tag versucht einfach alles hinzukriegen und will es möglichst weit bringen. Er sucht keinen Sinn dahinter, er will nicht wissen, wofür. Er lebt nicht. Der Tag lebt nicht, denkt nicht, atmet nicht. Die Dame, sie atmet langsam, kontrolliert. Ich mag die Dame. Ich will bei ihr sein, so oft wie es geht. Und alles was ich tun kann, ist den Tag zu verschlafen und die Nacht mit offenen Augen zu begrüssen.

1. März 2009
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