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Kurzgeschichten > Wahre Geschichten

Rillen einer altbekannten Melodie

von Marc P Sahli >>

Ein Freund schenkte mir zum Abschied ein feines Tuch aus Seide und Silberfäden als Erinnerung an Libyen, unser Libyen. Nun verwende ich dieses Gewebe seit Jahren schon als Tischtuch. Es bereitet mir auch in anderen Gefilden noch Freude: ein gestreiftes Tuch mit diagonaler Struktur und Silberfäden, die glänzen, wie die Sonne auf wellenbewegtem Meer. Das Braunrot, Rosenrot, Mauve und Ecru lugen mich an. Erinnerst du dich an damals? Warum hast du das Land und Freunde verlassen? Wo bist du nun und wo bin ich? Fragend sieht es mich an. Ich strecke meine Hand aus und fasse das leichte, feine Gewebe mit zitternden Fingern an. Sie ertasten Spuren, wie Rillen einer Langspielplatte, eine längst vergessene und doch altbekannte Melodie. Langsam erfühle ich das Tuch und schliesse die Augen zum Erinnerungs-versuch. Hie und da blitzt eine Erinnerung, eine Episode an ehemals bessre Tage, in meinem Gedächtnis auf. Nur ein Gestern, eine Vergangenheit ergibt eine Geschichte. Zukunft birgt nur Fragen. Der feine Stoff liegt in Bern auf meinem Küchentisch. Ich lass das gerillte Gewebe sprechen. Was es nicht mitbekommen hat: die arabische Revolution, den qadhafschen Tod, die zwei Regierungen, den IS. Das Tisch-tuch liegt hier in meinem zu Hause und Zeit ist ihm egal. Seine Zeit gibt es nicht mehr, meine auch nicht. Und doch, so bin ich sicher, gibt es dieses Gewebe dort noch zu kaufen auf dem arabischen Markt in der Altstadt. Wie viele Laufmeter später ist es jetzt? Ja, die Zeit in Laufmetern messen. Ich bin mir sicher, dasselbe Tuch ist es gleichwohl nicht. Immer ist das ältere besser und war von besserer Qualität. So hört man die Marktschreier auf dem Souk. Man kann nur hoffen, immer nur hoffen. Die Augen noch immer geschlossen höre und sehe ich beim Abtasten der Stoffrillen
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