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Die Frau am Gleis
von Torsten Haeffner >>
Es war diesen Sommer, an einem späten Dienstagabend, als ich am Zürcher Hauptbahnhof auf dem ansonsten fast leeren Perron auf meinen Zug wartete. Müde schaute ich auf die Uhr. Noch zwölf Minuten, bis mein Zug auf Gleis 4 einfahren würde.
Ich setzte mich auf eine Bank, zündete mir eine Zigarette an und blickte auf das grell leuchtende Werbeplakat einer Bank, das mir «die beste Rendite aller Zeiten» versprach.
«Hätten Sie Feuer für mich?», fragte mich eine Frau, nachdem sie zwei Sitze neben mir Platz genommen hatte. Sie trug einen für die Jahreszeit zu dicken Mantel. Ich schätzte sie auf etwas über Sechzig. Umständlich fingerte sie eine Parisienne aus einer Schachtel.
Ich beugte mich zu ihr hinüber, gab ihr Feuer. Ihre schlanke Hand zitterte stark.
Tief sog sie den Rauch in ihre Lunge hinab, stiess ihn mit flatterndem Atem wieder aus, abermals zog sie an ihrer Zigarette. Doch das heftige Zittern ihrer Hand blieb.
«Ist alles okay bei Ihnen?», fragte ich und machte mich darauf gefasst, nun eine Trinkerge-schichte zu hören.
Sie starrte auf den vor uns liegenden Schienenstrang. Ihr Gesichtsausdruck: entgleist.
«Was sind Sie von Beruf?», flüsterte sie beinahe.
Die Frage irritierte mich. «Schriftsteller. Ich mache Bücher. Und Sie?»
«Schriftsteller? Das passt. Dann können Sie etwas damit anfangen.»
Wenngleich ich den Sinn dieses Satzes nicht verstand, nickte ich.
«Ich habe heute Nachmittag meinen Mann …», sie suchte nach dem richtigen Wort. Dann sagte sie, als spräche sie zu sich selbst: «Getötet.»
Erneut nahm sie einen kräftigen Zug und schloss für einen langen Moment die Augen.
«Jawohl.» So bin |
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