Kurzgeschichten > Alltag |
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ich halt. Wenn eine entsetzliche Lage eintritt, verwende ich Worte, die der jeweiligen Situation etwas von ihrem Schrecken nehmen sollen.
Sie öffnete wieder die Augen, blickte mich an. «Umgebracht hab ich ihn. Nach mehr als fünfunddreissig Jahren ständiger Erniedrigung. Ein Nichts war ich in seinen Augen, weil ich keine Kinder kriegen konnte. Jeden Tag liess er’s mich spüren, was ich war. Und jede Nacht. Da war ich noch weniger. Vögeln konnte ich nicht, kochen konnte ich nicht, was ich auch tat, es war falsch. Machte ich den Mund auf, verbot er ihn mir.»
«Jawohl.»
«Mehr als fünfunddreissig Jahre hielt ich durch. Bis heute Nachmittag, als er mich wegen eines angeblich völlig missratenen Apfelkuchens zwang, ihm laut zu bestätigen, was ich in seinen Augen immer war: ein Nichts, eine völlige Versagerin.»
«Und dann haben Sie …»
Sie nickte, drückte mit äusserster Sorgfalt ihre heruntergerauchte Zigarette aus. «Abgestochen hab ich ihn.»
«Mit einem Messer.»
Abermals nickte sie, dann lachte sie keck auf. «Von hinten. Das erste Mal in meinem Leben hab ich etwas richtig gemacht. Nicht wahr?»
Ich nickte. «Und jetzt?»
Eine Durchsage ertönte. Der Zug auf Gleis 3 würde gleich einfahren, verkündete die Lautsprecherstimme. «Vorsicht an der Bahnsteigkante.»
«Und jetzt? Jetzt kommt mein Zug.» Sie erhob sich mit erkennbarer Müdigkeit. «Danke, dass Sie mir zugehört haben. Machen Sie’s gut.»
«Sie auch. Adieu.»
Keine Minute später ertönten mit erschütternder Gleichzeitigkeit: ein durch Mark und Bein gehender Verzweiflungsschrei, der dumpfe Aufprall eines Körpers und das Kreischen der abrupt einsetzenden |
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