Kurzgeschichten > Alltag |
 |
|
Neulich im Notfall
von Silvia Ittensohn >>
Im Wartesaal, in jener typischen Mischung aus Sterilität und Betriebsamkeit, sagte die Empfangsdame: „Sie müssen mit mindestens zwei Stunden Wartezeit rechnen. Möchten Sie nicht lieber am Montag zu Ihrem Hausarzt gehen?“ Ich verneinte. Ich wollte bleiben – trotz allem. Und obwohl mir angesichts der ständig eintreffenden Patientinnen und Patienten mit Rollstuhl, bandagiertem Arm oder Krücken die eigene Beschwerde zunehmend belanglos erschien.
Ein Junge humpelte durch den Raum, den Kopf gesenkt, den Blick leer. Man hörte, er sei unglücklich vom Sprungbrett gestürzt. Er wirkte matt, in sich gekehrt – als ginge ihn das Leben ringsum nichts mehr an. Seine Mutter saß gegenüber. Ihre Aufmerksamkeit galt weniger ihm als dem Mobiltelefon in ihrer Hand. Ihre Stimme laut, ihre Gesten fahrig – Mutter und Sohn wie Schwarz und Weiß.
Nicht weit davon ein ungewöhnliches Trio: Eine junge Frau, die sich aufmerksam über einen alten, abwesend wirkenden Mann beugte – wie man später erfuhr, ihr Großvater – und neben ihnen eine Dame, deren Erscheinung auffiel: schlank, sehnig, von eleganter Zurückhaltung. Ihr Gesicht wach, lebendig.
Sie wurde zum Schalter gerufen. „Ihr Geburtsdatum, bitte?“ Ein kehliges Lachen. „Jo wüssezi…“ – eine kurze Pause – „…es ist legendär.“ Nicht: historisch. Legendär. „1928. Ich bin 1928 geboren.“ Ein Lächeln dazu – offen, fast schelmisch. Als wolle sie der matronenhaften Empfangsdame, deren innere Ruhe einem Dauertornado ausgesetzt war, ein Mü ihres eigenen gelassenen Witzes mitgeben – ein Zeichen von Einklang, nicht Überlegenheit. |
 |
|
Seite
von 3 |
|
 |
Kommentare (0) |
|