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Achtzig Jahre und dann gehen
von Frederic Weiss >>
Nichts anderes
als die Einsamkeit
versteckt sich hinter
greller Larve.
Sie weiß anscheinend wirklich nicht, was sie jetzt tun soll. Unsicher nimmt sie den kleinen Tannenzweig und dreht ihn in der Hand. Der Priester starrt sie an und wartet. Endlich erhebt sich meine älteste Tochter und zeigt ihr, wie sie den Zweig in das Weihwasser eintauchen und damit mein Grab besprenkeln soll. Natürlich würde ich mir wünschen, dass diese Unsicherheit auf eine mögliche Trauer oder einen Schockzustand zurückzuführen wäre. Aber es ist lediglich ihre Unwissenheit, was das katholische Zeremoniell anbelangt. Eigentlich ist sie froh, dass ich gegangen bin und ihr nicht als Pflegefall zur Last falle. Dabei hatten wir es in den letzten Monaten noch recht gut miteinander, es war friedlicher als früher, und wir konnten sogar wieder miteinander lachen. Ein Dutzend Kinder habe ich mit ihr gezeugt und doch ist mir erst in den letzten Jahren meine Liebe zu ihr bewusst geworden. Am Ende war sie weitaus besser dran als ich es in den letzten Wochen und Monaten war. Ich mag noch klarer bei Verstand gewesen sein, aber mein Körper ließ mich mehr und mehr im Stich. Ich hätte mir die Augen damals operieren lassen sollen, als ich noch rüstiger war. Denn auf einmal war es dafür zu spät. Grauer Star. Trotz der modernen Methoden könnte man dagegen kaum mehr etwas machen, sagte der Augenarzt. Zudem war ich in letzter Zeit nicht mehr so gut zu Fuß. Meine Töchter mussten mich führen und es war mir peinlich, wenn ich mich nach ein paar Metern schon auf sie stützen musste, weil die Schmerzen in den Beinen überhand nahmen. Vorigen Sommer war ich zum ersten Mal in meinem Leben im Zoo. Über achtzig Jahre musste |
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