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2. Teil
Der Friedhof befand sich am anderen Ende des Viertels, hinter einer großen Kirche, welche einst prächtig erschienen hatte. Doch auch sie war gealtert und gekennzeichnet von den Ereignissen der letzten Jahrzehnte. Ana erinnerte sich noch an jenen Tag, als sie mit ihrem Vater zum ersten Mal das große Gebäude betreten hatte. Sie hatte voller Ehrfurcht seine Hand gedrückt. „Papá, das ist unglaublich.“, hatte das Mädchen gesagt und ihren über alles geliebten Vater angesehen. Seine tränenden Augen waren starr auf die Marienstatue gerichtet gewesen. Ana hatte gelächelt, denn sie hatte die tatsächlichen Gründe für diese plötzliche Emotion des sonst sehr beherrschten Mannes noch nicht verstanden.
Ana schloss die Augen und berührte eine weitere Kugel ihres hölzernen Rosenkranzes. Das Beten half ihr nicht zu verstehen, denn es gab nichts zu verstehen. Es half ihr auch nicht zu vergessen. Denn vergessen durfte und konnte sie nicht. Es machte ihren Schmerz kleiner, jedoch nur für jene halbe Stunde, welche sie hier wöchentlich verbrachte. Hier, am Grab Rosas, ihrer Tochter. In Gedenken an Rosa Marquez, geborene Vasquez, geliebte Tochter, Mutter und Freundin. Möge sie in Frieden ruhen. Mit dem Tod Rosas, im April 1990, war auch ein Teil Anas gestorben. Die ältere Frau atmete tief durch und blickte zu Lillian, welche die Hände in ihrer Jeansjacke vergraben und den Blick starr geradeaus gerichtet hatte. Ana runzelte die Stirn. Lillian konnte sehr aufbrausend und vorlaut sein. Doch sobald es um Dinge ging, welche ihr Herz zu tief berühren konnten, verschloss sie sich. Es schien Ana, als hätte Lillian Angst vor jeder Art tieferen Gefühlen. |
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