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Die Gruppe des Glatzköpfigen hat schon nach zehn Minuten keine Chance mehr. Denn dies ist zu sagen: Mein kleiner Leserkreis ist keineswegs nur literarisch interessiert, sondern eine seit fast dreissig Jahren bestehende Rockergruppe. Sie nennen sich «The Virgin’s Eyes». Die Jungs – und Shepherd – haben richtig was drauf. Und so zersplittern nicht nur Scheiben, sondern auch Gläser, Nasenbeine und Zähne.
Gut dreissig Minuten mochten seit Beginn der nun langsam erlahmenden Rauferei vergangen sein, als von weit her die ersten Polizeisirenen erklangen.
Die geneigte Leserin, der geneigte Leser mag sich fragen: «Ja, wie geht denn das? Erst nach dreissig Minuten rückt die Polizei an? Und das in der Schweiz?» Dazu ist zu sagen: Hier auf dem Land geht alles etwas langsamer: Erhält die Polizei wegen einer Schlägerei einen Anruf, wird erst einmal auf Zeit gespielt. Man stellt diverse Eieruhren und wartet ab. Wenn dann die letzte Eieruhr klingelt, wird ausgerückt.
Wie gesagt: Erste Sirenen waren zu hören. Die Präsidentin von «The Virgin’s Eyes» stiess drei scharfe Pfiffe aus, meine Lesergruppe befriedete augenblicklich die Lage, klaute seelenruhig den auf dem Boden liegenden Schlägertypen ihr Bargeld und überreichte selbiges lächelnd dem Wirt.
«Das war’s wieder mal», sagte Shepherd freudig lachend. Sie klatschte in die Hände, erhob sich und ging in die Bar. Dort überreichte sie dem Wirt noch einige Scheine mit den Worten «nichts für ungut». Dann startete sie ihre Maschine. Der hämmernde Sound ihrer monströsen Guzzi liess die Strassenschlucht erzittern. Kurz darauf verschwanden «The Virgin’s Eyes» in der finsteren Nacht.
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